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Weihnachtliches Märchen-Lese-Memory 4/4

Ich hoffe ihr hatte fröhliche und besinnliche Weihnachtsmomente während der Festtage. Hier nun die letzten sechs Karten für euer Märchen-Lese-Memory.



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Falls ihr gerade nicht die Texte der 3 Märchen zur Hand habt, dann könnt ihr hier die Orginalversionen finden:


Tischlein, deck dich

Ein Märchen der Gebrüder Grimm


Vor Zeiten war ein Schneider, der drei Söhne hatte und nur eine einzige Ziege. Aber die Ziege, weil sie alle zusammen mit ihrer Milch ernährte, mußte ihr gutes Futter haben und täglich hinaus auf die Weide geführt werden. Die Söhne taten das auch nach der Reihe. Einmal brachte sie der älteste auf den Kirchhof, wo die schönsten Kräuter standen, ließ sie da fressen und herumspringen. Abends, als es Zeit war heimzugehen, fragte er: "Ziege, bist du satt?" Die Ziege antwortete:

"Ich bin so satt, Ich mag kein Blatt, meh! meh!"

"So komm nach Haus," sprach der Junge, faßte sie am Strickchen, führte sie in den Stall und band sie fest. "Nun," sagte der alte Schneider, "hat die Ziege ihr gehöriges Futter?" - "Oh," antwortete der Sohn, "die ist so satt, sie mag kein Blatt." Der Vater aber wollte sich selbst überzeugen, ging hinab in den Stall streichelte das liebe Tier und fragte: "Ziege, bist du auch satt?" Die Ziege antwortete:

"Wovon sollt ich satt sein? Ich sprang nur über Gräbelein Und fand kein einzig Blättelein, meh! meh!"

"Was muß ich hören!" rief der Schneider, lief hinauf und sprach zu dem Jungen: "Ei, du Lügner, sagst die Ziege wäre satt und hast sie hungern lassen?" Und in seinem Zorne nahm er die Elle von der Wand und jagte ihn mit Schlägen hinaus. Am andern Tag war die Reihe am zweiten Sohn, der suchte an der Gartenhecke einen Platz aus, wo lauter gute Kräuter standen, und die Ziege fraß sie rein ab. Abends, als er heim wollte, fragte er: "Ziege, bist du satt?" Die Ziege antwortete:

"Ich bin so satt, Ich mag kein Blatt, meh! meh!"

"So komm nach Haus," sprach der Junge, zog sie heim und band sie im Stall fest. "Nun," sagte der alte Schneider, "hat die Ziege ihr gehöriges Futter?" - "Oh," antwortete der Sohn, ,die ist so satt, sie mag kein Blatt." Der Schneider wollte sich darauf nicht verlassen, ging hinab in den Stall und fragte: "Ziege, bist du auch satt?" Die Ziege antwortete:

"Wovon sollt ich satt sein? Ich sprang nur über Gräbelein Und fand kein einzig Blättelein, meh! meh!"

"Der gottlose Bösewicht!" schrie der Schneider, "so ein frommes Tier hungern zu lassen " Lief hinauf und schlug mit der Elle den Jungen zur Haustüre hinaus. Die Reihe kam jetzt an den dritten Sohn, der wollte seine Sache gut machen, suchte Buschwerk mit dem schönsten Laube aus und ließ die Ziege daran fressen. Abends, als er heim wollte, fragte er: "Ziege, bist du auch satt?" Die Ziege antwortete:

"Ich bin so satt, Ich mag kein Blatt, meh! meh!"

"So komm nach Haus," sagte der Junge, führte sie in den Stall und band sie fest. "Nun," sagte der alte Schneider, "hat die Ziege ihr gehöriges Futter?" - "Oh," antwortete der Sohn, "die ist so satt, sie mag kein Blatt." Der Schneider traute nicht, ging hinab und fragte: "Ziege, bist du auch satt?" Das boshafte Tier antwortete:

"Wovon sollt ich satt sein? Ich sprang nur über Gräbelein Und fand kein einzig Blättelein, meh! meh!"

"Oh, die Lügenbrut!" rief der Schneider, "einer so gottlos und pflichtvergessen wie der andere! Ihr sollt mich nicht länger zum Narren haben!" Und vor Zorn ganz außer sich sprang er hinauf und gerbte dem armen Jungen mit der Elle den Rücken so gewaltig, daß er zum Haus hinaussprang. Der alte Schneider war nun mit seiner Ziege allein. Am andern Morgen ging er hinab in den Stall, liebkoste die Ziege und sprach: "Komm, mein liebes Tierlein, ich will dich selbst zur Weide führen." Er nahm sie am Strick und brachte sie zu grünen Hecken und unter Schafrippe und was sonst die Ziegen gerne fressen. "Da kannst du dich einmal nach Herzenslust sättigen," sprach er zu ihr und ließ sie weiden bis zum Abend. Da fragte er: "Ziege, bist du satt?" Sie antwortete:

"Ich bin so satt, Ich mag kein Blatt, meh! meh!"

"So komm nach Haus," sagte der Schneider, führte sie in den Stall und band sie fest. Als er wegging, kehrte er sich noch einmal um und sagte: "Nun bist du doch einmal satt!" Aber die Ziege machte es ihm nicht besser und rief:

"Wie sollt ich satt sein? Ich sprang nur über Gräbelein Und fand kein einzig Blättelein, meh! meh!"

Als der Schneider das hörte, stutzte er und sah wohl, daß er seine drei Söhne ohne Ursache verstoßen hatte. "Wart," rief er, " Du undankbares Geschöpf, dich fortzujagen ist noch zu wenig, ich will dich zeichnen, daß du dich unter ehrbaren Schneidern nicht mehr darfst sehen lassen." In einer Hast sprang er hinauf, holte sein Bartmesser, seifte der Ziege den Kopf ein und schor sie so glatt wie seine flache Hand. Und weil die Elle zu ehrenvoll gewesen wäre, holte er die Peitsche und versetzte ihr solche Hiebe, daß sie in gewaltigen Sprüngen davonlief. Der Schneider, als er so ganz einsam in seinem Hause saß, verfiel in große Traurigkeit und hätte seine Söhne gerne wieder gehabt, aber niemand wußte, wo sie hingeraten waren. Der älteste war zu einem Schreiner in die Lehre gegangen, da lernte er fleißig und unverdrossen, und als seine Zeit herum war, daß er wandern sollte, schenkte ihm der Meister ein Tischchen, das gar kein besonderes Ansehen hatte und von gewöhnlichem Holz war; aber es hatte eine gute Eigenschaft. Wenn man es hinstellte und sprach: "Tischchen, deck dich!" so war das gute Tischchen auf einmal mit einem sauberen Tüchlein bedeckt und stand da ein Teller, und Messer und Gabel daneben und Schüsseln mit Gesottenem und Gebratenem, so viel Platz hatten, und ein großes Glas mit rotem Wein leuchtete, daß einem das Herz lachte. Der junge Gesell dachte: Damit hast du genug für dein Lebtag, zog guter Dinge in der Welt umher und bekümmerte sich gar nicht darum, ob ein Wirtshaus gut oder schlecht und ob etwas darin zu finden war oder nicht. Wenn es ihm gefiel, so kehrte er gar nicht ein, sondern im Felde, im Wald, auf einer Wiese, wo er Lust hatte, nahm er sein Tischchen vom Rücken, stellte es vor sich und sprach: "Deck dich!" so war alles da, was sein Herz begehrte. Endlich kam es ihm in den Sinn, er wollte zu seinem Vater zurückkehren, sein Zorn würde sich gelegt haben, und mit dem "Tischchen deck dich" würde er ihn gerne wieder aufnehmen. Es trug sich zu, daß er auf dem Heimweg abends in ein Wirtshaus kam, das mit Gästen angefüllt war. Sie hießen ihn willkommen und luden ihn ein, sich zu ihnen zu setzen und mit ihnen zu essen, sonst würde er schwerlich noch etwas bekommen. "Nein," antwortete der Schreiner, "die paar Bissen will ich euch nicht von dem Munde nehmen, lieber sollt ihr meine Gäste sein." Sie lachten und meinten, er triebe seinen Spaß mit ihnen. Er aber stellte sein hölzernes Tischchen mitten in die Stube und sprach: "Tischchen, deck dich!" Augenblicklich war es mit Speisen besetzt, so gut, wie sie der Wirt nicht hätte herbeischaffen können und wovon der Geruch den Gästen lieblich in die Nase stieg. "Zugegriffen, liebe Freunde!" sprach der Schreiner, und die Gäste, als sie sahen, wie es gemeint war, ließen sich nicht zweimal bitten, rückten heran, zogen ihre Messer und griffen tapfer zu. Und was sie am meisten verwunderte, wenn eine Schüssel leer geworden war, so stellte sich gleich von selbst eine volle an ihren Platz. Der Wirt stand in einer Ecke und sah dem Dinge zu; er wußte gar nicht, was er sagen sollte, dachte aber: Einen solchen Koch könntest du in deiner Wirtschaft wohl brauchen. Der Schreiner und seine Gesellschaft waren lustig bis in die späte Nacht, endlich legten sie sich schlafen, und der junge Geselle ging auch zu Bett und stellte sein Wunschtischchen an die Wand. Dem Wirte aber ließen seine Gedanken keine Ruhe, es fiel ihm ein, daß in seiner Rumpelkammer ein altes Tischchen stände, das geradeso aussah; das holte er ganz sachte herbei und vertauschte es mit dem Wünschtischchen. Am andern Morgen zahlte der Schreiner sein Schlafgeld, packte sein Tischchen auf, dachte gar nicht daran, daß er ein falsches hätte, und ging seiner Wege. Zu Mittag kam er bei seinem Vater an, der ihn mit großer Freude empfing. "Nun, mein lieber Sohn, was hast du gelernt?" sagte er zu ihm. "Vater, ich bin ein Schreiner geworden." - "Ein gutes Handwerk," erwiderte der Alte, "aber was hast du von deiner Wanderschaft mitgebracht?" - "Vater, das beste, was ich mitgebracht habe, ist das Tischchen." Der Schneider betrachtete es von allen Seiten und sagte: "Daran hast du kein Meisterstück gemacht, das ist ein altes und schlechtes Tischchen." - "Aber es ist ein ›Tischchen deck dich‹," antwortete der Sohn, "wenn ich es hinstelle und sage ihm, es solle sich decken, so stehen gleich die schönsten Gerichte darauf und ein Wein dabei, der das Herz erfreut. Ladet nur alle Verwandte und Freunde ein, die sollen sich einmal laben und erquicken, denn das Tischchen macht sie alle satt." Als die Gesellschaft beisammen war, stellte er sein Tischchen mitten in die Stube und sprach: "Tischchen, deck dich!" Aber das Tischchen regte sich nicht und blieb so leer wie ein anderer Tisch, der die Sprache nicht versteht. Da merkte der arme Geselle, daß ihm das Tischchen vertauscht war, und schämte sich, daß er wie ein Lügner dastand. Die Verwandten aber lachten ihn aus und mußten ungetrunken und ungegessen wieder heimwandern. Der Vater holte seine Lappen wieder herbei und schneiderte fort, der Sohn aber ging bei einem Meister in die Arbeit. Der zweite Sohn war zu einem Müller gekommen und bei ihm in die Lehre gegangen. Als er seine Jahre herum hatte, sprach der Meister: "Weil du dich so wohl gehalten hast, so schenke ich dir einen Esel von einer besonderen Art, er zieht nicht am Wagen und trägt auch keine Säcke." - "Wozu ist er denn nütze?" fragte der junge Geselle. "Er speit Gold," antwortete der Müller, "wenn du ihn auf ein Tuch stellst und sprichst: Bricklebrit! so speit dir das gute Tier Goldstücke aus, hinten und vorn." - "Das ist eine schöne Sache," sprach der Geselle, dankte dem Meister und zog in die Welt. Wenn er Gold nötig hatte, brauchte er nur zu seinem Esel "Bricklebrit!" zu sagen, so regnete es Goldstücke, und er hatte weiter keine Mühe, als sie von der Erde aufzuheben. Wo er hinkam, war ihm das Beste gut genug, und je teurer je lieber, denn er hatte immer einen vollen Beutel. Als er sich eine Zeitlang in der Welt umgesehen hatte, dachte er: Du mußt deinen Vater aufsuchen, wenn du mit dem Goldesel kommst, so wird er seinen Zorn vergessen und dich gut aufnehmen. Es trug sich zu, daß er in dasselbe Wirtshaus geriet, in welchem seinem Bruder das Tischchen vertauscht war. Er führte seinen Esel an der Hand, und der Wirt wollte ihm das Tier abnehmen und anbinden, der junge Geselle aber sprach: "Gebt Euch keine Mühe, meinen Grauschimmel führe ich selbst in den Stall und binde ihn auch selbst an, denn ich muß wissen, wo er steht." Dem Wirt kam das wunderlich vor, und er meinte, einer, der seinen Esel selbst besorgen müßte, hätte nicht viel zu verzehren; aber als der Fremde in die Tasche griff, zwei Goldstücke herausholte und sagte, er solle nur etwas Gutes für ihn einkaufen, so machte er große Augen, lief und suchte das Beste, das er auftreiben konnte. Nach der Mahlzeit fragte der Gast, was er schuldig wäre, der Wirt wollte die doppelte Kreide nicht sparen und sagte, noch ein paar Goldstücke müßte er zulegen. Der Geselle griff in die Tasche, aber sein Geld war eben zu Ende. "Wartet einen Augenblick, Herr Wirt," sprach er, "ich will nur gehen und Gold holen!" nahm aber das Tischtuch mit. Der Wirt wußte nicht, was das heißen sollte, war neugierig, schlich ihm nach, und da der Gast die Stalltüre zuriegelte, so guckte er durch ein Astloch. Der Fremde breitete unter dem Esel das Tuch aus, rief "Bricklebrit!" und augenblicklich fing das Tier an Gold zu speien von hinten und von vorne, daß es ordentlich auf die Erde herabregnete. "Ei, der Tausend!" sagte der Wirt, "da sind die Dukaten bald geprägt! So ein Geldbeutel ist nicht übel!" Der Gast bezahlte seine Zeche und legte sich schlafen, der Wirt aber schlich in der Nacht herab in den Stall, führte den Münzmeister weg und band einen andern Esel an seine Stelle. Den folgenden Morgen in der Frühe zog der Geselle mit seinem Esel ab und meinte, er hätte seinen Goldesel. Mittags kam er bei seinem Vater an, der sich freute, als er ihn wiedersah, und ihn gerne aufnahm. "Was ist aus dir geworden, mein Sohn?" fragte der Alte. "Ein Müller, lieber Vater," antwortete er. "Was hast du von deiner Wanderschaft mitgebracht?" - "Weiter nichts als einen Esel." - "Esel gibt's hier genug," sagte der Vater, "da wäre mir doch eine gute Ziege lieber gewesen." - "Ja," antwortete der Sohn, "aber es ist kein gemeiner Esel, sondern ein Goldesel; wenn ich sage Bricklebrit!, so speit Euch das gute Tier ein ganzes Tuch voll Goldstücke. Laßt nur alle Verwandten herbeirufen, ich mache sie alle zu reichen Leuten." - "Das laß ich mir gefallen," sagte der Schneider, "dann brauch ich mich mit der Nadel nicht weiter zu quälen," sprang selbst fort und rief die Verwandten herbei. Sobald sie beisammen waren, hieß sie der Müller Platz machen, breitete sein Tuch aus und brachte den Esel in die Stube. "Jetzt gebt acht!" sagte er und rief: "Bricklebrit!" aber es waren keine Goldstücke, was herabfiel, und es zeigte sich, daß das Tier nichts von der Kunst verstand, denn es bringt's nicht jeder Esel soweit. Da machte der arme Müller ein langes Gesicht, sah, daß er betrogen war, und bat die Verwandten um Verzeihung, die so arm heimgingen, als sie gekommen waren. Es blieb nichts übrig, der Alte mußte wieder nach der Nadel greifen und der Junge sich bei einem Müller verdingen. Der dritte Bruder war zu einem Drechsler in die Lehre gegangen, und weil es ein kunstreiches Handwerk ist, mußte er am längsten lernen. Seine Brüder aber meldeten ihm in einem Briefe, wie schlimm es ihnen ergangen wäre und wie sie der Wirt noch am letzten Abend um ihre schönen Wünschdinge gebracht hätte. Als der Drechsler nun ausgelernt hatte und wandern sollte, so schenkte ihm sein Meister, weil er sich so wohl gehalten, einen Sack und sagte: "Es liegt ein Knüppel darin." - "Den Sack kann ich umhängen, und er kann mir gute Dienste leisten, aber was soll der Knüppel darin? Der macht ihn nur schwer." - "Das will ich dir sagen," antwortete der Meister. "Hat dir jemand etwas zuleid getan, so sprich nur: ›Knüppel, aus dem Sack!‹, so springt dir der Knüppel heraus unter die Leute und tanzt ihnen so lustig auf dem Rücken herum, daß sie sich acht Tage lang nicht regen und bewegen können; und eher läßt er nicht ab, als bis du sagst: ›Knüppel, in den Sack!‹" Der Gesell dankte ihm, hing den Sack um, und wenn ihm jemand zu nahe kam und auf den Leib wollte, so sprach er: "Knüppel, aus dem Sack!" Alsbald sprang der Knüppel heraus und klopfte einem nach dem andern den Rock oder das Wams gleich auf dem Rücken aus und wartete nicht erst, bis er ihn ausgezogen hatte; und das ging so geschwind, daß, eh sich's einer versah, die Reihe schon an ihm war. Der junge Drechsler langte zur Abendzeit in dem Wirtshaus an, wo seine Brüder waren betrogen worden. Er legte seinen Ranzen vor sich auf den Tisch und fing an zu erzählen, was er alles Merkwürdiges in der Welt gesehen habe. "Ja," sagte er, "man findet wohl ein Tischchen deck dich, einen Goldesel und dergleichen, lauter gute Dinge, die ich nicht verachte, aber das ist alles nichts gegen den Schatz, den ich mir erworben habe und mit mir da in meinem Sack führe." Der Wirt spitzte die Ohren: Was in aller Welt mag das sein? dachte er, der Sack ist wohl mit lauter Edelsteinen angefüllt; den sollte ich billig auch noch haben, denn aller guten Dinge sind drei. Als Schlafenszeit war, streckte sich der Gast auf die Bank und legte seinen Sack als Kopfkissen unter. Der Wirt, als er meinte, der Gast läge in tiefem Schlaf, ging herbei, rückte und zog ganz sachte und vorsichtig an dem Sack, ob er ihn vielleicht wegziehen und einen andern unterlegen könnte. Der Drechsler aber hatte schon lange darauf gewartet; wie nun der Wirt eben einen herzhaften Ruck tun wollte, rief er: "Knüppel, aus dem Sack!" Alsbald fuhr das Knüppelchen heraus, dem Wirt auf den Leib und rieb ihm die Nähte, daß es eine Art hatte. Der Wirt schrie zum Erbarmen, aber je lauter er schrie, desto kräftiger schlug der Knüppel ihm den Takt dazu auf den Rücken, bis er endlich erschöpft zur Erde fiel. Da sprach der Drechsler: "Wenn du das Tischchen deck dich und den Goldesel nicht wieder herausgibst, so soll der Tanz von neuem angehen!" - "Ach nein," rief der Wirt ganz kleinlaut, ich gebe alles gerne wieder heraus, laßt nur den verwünschten Kobold wieder in den Sack kriechen." Da sprach der Geselle: "Ich will Gnade vor Recht ergehen lassen, aber hüte dich vor Schaden!" Dann rief er "Knüppel, in den Sack!" und ließ ihn ruhen. Der Drechsler zog am andern Morgen mit dem Tichchen deck dich und dem Goldesel heim zu seinem Vater. Der Schneider freute, als er ihn wiedersah, und fragte auch ihn, was es in der Fremde gelernt hätte. "Lieber Vater," antwortete er, "ich bin ein Drechsler geworden." - "Ein kunstreiches Handwerk," sagte der Vater, "was hast du von der Wanderschaft mitgebracht?" - "Ein kostbares Stück, lieber Vater," antwortete der Sohn, "einen Knüppel in dem Sack." - "Was?" rief der Vater, "einen Knüppel! Das ist der Mühe wert! Den kannst du dir von jedem Baume abhauen." - "Aber einen solchen nicht lieber Vater. Sage ich: ›Knüppel aus dem Sack!‹ so springt der Knüppel heraus und macht mit dem, der es nicht gut mit mir meint, einen schlimmen Tanz und läßt nicht eher nach, als bis er auf der Erde liegt und um gut Wetter bittet. Seht ihr mit diesem Knüppel habe ich das Tischlein deck dich und den Goldesel wieder herbeigeschafft, die der diebische Wirt meinen Brüdern abgenommen hatte. Jetzt laßt sie beide rufen und ladet alle Verwandten ein, ich will sie speisen und tränken und will ihnen die Taschen noch mit Gold füllen." Der alte Schneider wollte nicht recht trauen, brachte aber doch die Verwandten zusammen. Da deckte der Drechsler ein Tuch in die Stube, führte den Goldesel herein und sagte zu seinem Bruder: "Nun, lieber Bruder, sprich mit ihm!" Der Müller sagte: "Bricklebrit!" und augenblicklich sprangen die Goldstücke auf das Tuch herab, als käme ein Platzregen, und der Esel hörte nicht eher auf, als bis alle so viel hatten, daß sie nicht mehr tragen konnten. (Ich sehe dir's an, du wärst auch gerne dabei gewesen!) Dann holte der Drechsler das Tischchen und sagte: "Lieber Bruder, nun sprich mit ihm!" Und kaum hatte der Schreiner "Tischchen, deck dich!" gesagt, so war es gedeckt und mit den schönsten Schüsseln reichlich besetzt. Da ward eine Mahlzeit gehalten, wie der gute Schneider noch keine in seinem Hause erlebt hatte, und die ganze Verwandtschaft blieb beisammen bis in die Nacht, und waren alle lustig und vergnügt. Der Schneider verschloß Nadel und Zwirn, Elle und Bügeleisen in einen Schrank und lebte mit seinen drei Söhnen in Freude und Herrlichkeit. Wo ist aber die Ziege hingekommen, die schuld war, daß der Schneider seine drei Söhne fortjagte? Das will ich dir sagen. Sie schämte sich, daß sie einen kahlen Kopf hatte, lief in eine Fuchshöhle und verkroch sich hinein. Als der Fuchs nach Hause kam, funkelten ihm ein paar große Augen aus der Dunkelheit entgegen, daß er erschrak und wieder zurücklief. Der Bär begegnete ihm, und da der Fuchs ganz verstört aussah, so sprach er: "Was ist dir, Bruder Fuchs, was machst du für ein Gesicht?" - "Ach," antwortete der Rote, "ein grimmig Tier sitzt in meiner Höhle und hat mich mit feurigen Augen angeglotzt." - "Das wollen wir bald austreiben," sprach der Bär, ging mit zu der Höhle und schaute hinein; als er aber die feurigen Augen erblickte, wandelte ihn ebenfalls Furcht an, er wollte mit dem grimmigen Tiere nichts zu tun haben und nahm Reißaus. Die Biene begegnete ihm, und da sie merkte, daß es ihm in seiner Haut nicht wohl zumute war, sprach sie: "Bär, du machst ja ein gewaltig verdrießlich Gesicht, wo ist deine Lustigkeit geblieben?" - "Du hast gut reden," antwortete der Bär, "es sitzt ein grimmiges Tier mit Glotzaugen in dem Hause des Roten, und wir können es nicht herausjagen." Die Biene sprach: "Du dauerst mich, Bär, ich bin ein armes, schwaches Geschöpf, das ihr im Wege nicht anguckt, aber ich glaube doch, daß ich euch helfen kann." Sie flog in die Fuchshöhle, setzte sich der Ziege auf den glatten, geschorenen Kopf und stach sie so gewaltig, daß sie aufsprang, "meh! meh!" schrie und wie toll in die Welt hineinlief; und weiß niemand auf diese Stunde, wo sie hingelaufen ist.



Die sieben Geißlein

Ein Märchen der Gebrüder Grimm


Es war einmal eine alte Geiß, die hatte sieben junge Geißlein, und hatte sie lieb, wie eine Mutter ihre Kinder lieb hat. Eines Tages wollte sie in den Wald gehen und Futter holen, da rief sie alle sieben herbei und sprach: "Liebe Kinder, ich will hinaus in den Wald, seid auf eurer Hut vor dem Wolf, wenn er hereinkommt, so frißt er euch mit Haut und Haar. Der Bösewicht verstellt sich oft, aber an seiner rauhen Stimme und an seinen schwarzen Füßen werdet ihr ihn gleich erkennen." Die Geißlein sagten: "Liebe Mutter, wir wollen uns schon in acht nehmen, Ihr könnt ohne Sorge fortgehen." Da meckerte die Alte und machte sich getrost auf den Weg. Es dauerte nicht lange, da klopfte jemand an die Haustür und rief: "Macht auf, ihr lieben Kinder, eure Mutter ist da und hat jedem von euch etwas mitgebracht!" Aber die Geißlein hörten an der rauhen Stimme, daß es der Wolf war. "Wir machen nicht auf," riefen sie, "du bist unsere Mutter nicht, die hat eine feine und liebliche Stimme, aber deine Stimme aber ist rau; du bist der Wolf." Da ging der Wolf fort zu einem Krämer und kaufte sich ein großes Stück Kreide; er aß es auf und machte damit seine Stimme fein. Dann kam er zurück, klopfte an die Haustür und rief: "Macht auf, ihr lieben Kinder, eure Mutter ist da und hat jedem von euch etwas mitgebracht!" Aber der Wolf hatte seine schwarze Pfote in das Fenster gelegt, das sahen die Kinder und riefen: "Wir machen nicht auf, unsere Mutter hat keinen schwarzen Fuß, wie du; du bist der Wolf!" Da lief der Wolf zu einem Bäcker und sprach: "Ich habe mich an den Fuß gestoßen, streich mir Teig darüber." Als ihm der Bäcker die Pfote bestrichen hatte, so lief er zum Müller und sprach: "Streu mir weißes Mehl auf meine Pfote." Der Müller dachte: Der Wolf will einen betrügen, und weigerte sich; aber der Wolf sprach: "Wenn du es nicht tust, fresse ich dich!" Da fürchtete sich der Müller und machte ihm die Pfote weiß. Ja, so sind die Menschen. Nun ging der Bösewicht zum dritten Mal zu der Haustür, klopfte an und sprach: "Macht auf, Kinder, euer liebes Mütterchen ist heimgekommen und hat jedem von euch etwas aus dem Walde mitgebracht!" Die Geißlein riefen: "Zeig uns zuerst deine Pfote, damit wir wissen, daß du unser liebes Mütterchen bist." Da legte der Wolf die Pfote ins Fenster, und als sie sahen, daß sie weiß war, so glaubten sie, es wäre alles wahr, was er sagte, und machten die Türe auf. Wer aber hereinkam, war der Wolf. Die Geißlein erschraken und wollten sich verstecken. Das eine sprang unter den Tisch, das zweite ins Bett, das dritte in den Ofen, das vierte in die Küche, das fünfte in den Schrank, das sechste unter die Waschschüssel, das siebente in den Kasten der Wanduhr. Aber der Wolf fand sie alle und machte nicht langes Federlesen: eins nach dem andern schluckte er in seinen Rachen; nur das jüngste in dem Uhrkasten fand er nicht. Als der Wolf seine Lust gebüßt hatte, trollte er sich fort, legte sich draußen auf der grünen Wiese unter einen Baum und fing an zu schlafen. Nicht lange danach kam die alte Geiß aus dem Walde wieder heim. Ach, was mußte sie da erblicken! Die Haustür stand sperrweit auf, Tisch, Stühle und Bänke waren umgeworfen, die Waschschüssel lag in Scherben, Decke und Kissen waren aus dem Bett gezogen. Sie suchte ihre Kinder, aber nirgends waren sie zu finden. Sie rief sie nacheinander bei Namen, aber niemand antwortete. Endlich, als sie das jüngste rief, da rief eine feine Stimme: "Liebe Mutter, ich stecke im Uhrkasten." Sie holte es heraus, und es erzählte ihr, daß der Wolf gekommen wäre und die anderen alle gefressen hätte. Da könnt ihr denken, wie sie über ihre armen Kinder geweint hat! Endlich ging sie in ihrem Jammer hinaus, und das jüngste Geißlein lief mit. Als sie auf die Wiese kam, so lag da der Wolf an dem Baum und schnarchte, daß die Äste zitterten. Sie betrachtete ihn von allen Seiten und sah, daß in seinem angefüllten Bauch sich etwas regte und zappelte. Ach, Gott, dachte sie, sollten meine armen Kinder, die er zum Nachtmahl hinuntergewürgt hat, noch am Leben sein? Da mußte das Geißlein nach Hause laufen und Schere, Nadel und Zwirn holen. Dann schnitt sie dem Ungetüm den Wanst auf, und kaum hatte sie einen Schnitt getan, so streckte schon ein Geißlein den Kopf heraus, und als sie weiter schnitt, so sprangen nacheinander alle sechse heraus, und waren noch alle am Leben, und hatten nicht einmal Schaden erlitten, denn das Ungetüm hatte sie in der Gier ganz hinuntergeschluckt. Das war eine Freude! Da herzten sie ihre liebe Mutter, und hüpften wie Schneider, der Hochzeit hält. Die Alte aber sagte: "Jetzt geht und sucht Wackersteine, damit wollen wir dem gottlosen Tier den Bauch füllen, solange es noch im Schlafe liegt." Da schleppten die sieben Geißerchen in aller Eile die Steine herbei und steckten sie ihm in den Bauch, so viel als sie hineinbringen konnten. Dann nähte ihn die Alte in aller Geschwindigkeit wieder zu, daß er nichts merkte und sich nicht einmal regte. Als der Wolf endlich ausgeschlafen hatte, machte er sich auf die Beine, und weil ihm die Steine im Magen so großen Durst erregten, so wollte er zu einem Brunnen gehen und trinken. Als er aber anfing zu gehen und sich hin und her zu bewegen, so stießen die Steine in seinem Bauch aneinander und rappelten. Da rief er:

"Was rumpelt und pumpelt In meinem Bauch herum? Ich meinte, es wären sechs Geißelein, Doch sind's lauter Wackerstein."

Und als er an den Brunnen kam und sich über das Wasser bückte und trinken wollte, da zogen ihn die schweren Steine hinein, und er mußte jämmerlich ersaufen. Als die sieben Geißlein das sahen, kamen sie eilig herbeigelaufen und riefen laut: "Der Wolf ist tot! Der Wolf ist tot!" und tanzten mit ihrer Mutter vor Freude um den Brunnen herum.


Die kleine Meerjungfrau

Ein Märchen von Hans Christian Andersen


Weit draußen im Meere ist das Wasser so blau, wie die Blätter der schönsten Kornblume, und so klar, wie das reinste Glas. Aber es ist sehr tief, tiefer, als irgend ein Ankertau reicht; viele Kirchthürme müßten auf einander gestellt werden, um vom Boden bis über das Wasser zu reichen. Dort unten wohnt das Meervolk.

Nun muß man aber nicht glauben, daß da nur der nackte weiße Sandboden sei; nein, da wachsen die sonderbarsten Bäume und Pflanzen, die so geschmeidig im Stiel und in den Blättern sind, daß sie sich bei der geringsten Bewegung des Wassers rühren, gerade als ob sie lebten. Alle Fische, kleine und große, schlüpfen zwischen den Zweigen hindurch, ebenso wie hier oben die Vögel durch die Bäume. An der allertiefsten Stelle liegt des Meerkönigs Schloß; die Mauern sind von Korallen und die langen spitzen Fenster vom allerklarsten Bernstein; aber das Dach bilden Muschelschalen, die sich öffnen und schließen, jenachdem das Wasser strömt. Es sieht herrlich aus, denn in jeder liegen strahlende Perlen; eine einzige davon würde großen Werth in der Krone einer Königin haben.

Der Meerkönig dort unten war seit vielen Jahren Wittwer, während seine alte Mutter bei ihm wirthschaftete. Sie war eine kluge Frau, aber stolz auf ihren Adel; deshalb trug sie zwölf Austern auf dem Schwanze, die andern Vornehmen aber durften nur sechs tragen. - Sonst verdiente sie großes Lob, besonders weil sie viel von den kleinen Meerprinzessinnen, ihren Enkelinnen, hielt. Es waren sechs schöne Kinder, aber die Jüngste war die Schönste von allen; ihre Haut war so klar und fein wie ein Rosenblatt, ihre Augen so blau wie die tiefste See; aber ebenso, wie alle die Anderen, hatte sie keine Füße; der Körper endete in einen Fischschwanz.

Den ganzen Tag konnten sie unten im Schlosse, in den großen Sälen, wo lebendige Blumen aus den Wänden hervorwuchsen, spielen. Die großen Bernsteinfenster wurden aufgemacht, und dann schwammen die Fische zu ihnen herein, ebenso wie bei uns die Schwalben hereinfliegen, wenn wir aufmachen; doch die Fische schwammen gerade zu den Prinzessinnen hin, fraßen aus ihren Händen und ließen sich streicheln.

Draußen vor dem Schlosse war ein großer Garten mit feuerrothen und dunkelblauen Bäumen; die Früchte strahlten wie Gold und die Blumen wie brennendes Feuer, indem sie fortwährend Stengel und Blätter bewegten. Die Erde selbst war der feinste Sand, aber blau, wie die Schwefelflamme. Ueber dem Ganzen dort unten lag ein eigenthümlich blauer Schein; man hätte eher glauben mögen, daß man hoch in der Luft stehe und nur Himmel über und unter sich habe, als daß man auf dem Grunde des Meeres sei. Während der Windstille konnte man die Sonne erblicken; sie erschien wie eine Purpurblume, aus deren Kelch alles Licht ausströmte.

Eine jede der kleinen Prinzessinnen hatte ihren kleinen Fleck im Garten, wo sie graben und pflanzen konnte, wie es ihr gefiel. Die Eine gab ihrem Blumenfleck die Gestalt eines Walfisches; einer Andern gefiel es besser, daß der ihrige einem kleinen Meerweibe gleiche; aber die Jüngste machte den ihrigen ganz rund, der Sonne gleich, und hatte Blumen, die roth wie diese schienen. Sie war ein sonderbares Kind, still und nachdenklich; und wenn die andern Schwestern mit den sonderbarsten Sachen, welche sie von gestrandeten Schiffen erhalten hatten, prunkten, wollte sie außer den rosenrothen Blumen, die der Sonne dort oben glichen, nur eine hübsche Marmorstatue haben. Dies war ein herrlicher Knabe, aus weißem, klarem Stein gehauen, der beim Stranden auf den Meeresgrund gekommen war. Sie pflanzte bei der Statue eine rosenrothe Trauerweide; die wuchs herrlich und hing mit ihren frischen Zweigen über derselben, gegen den blauen Sandboden hinunter, wo der Schatten sich violet zeigte und, gleich den Zweigen, in Bewegung war; es sah aus, als ob die Spitze und die Wurzeln mit einander spielten, als wollten sie sich küssen.

Es gab keine größere Freude für sie, als von der Menschenwelt dort oben zu hören; die alte Großmutter mußte Alles, was sie von Schiffen und Städten, Menschen und Thieren wußte, erzählen; hauptsächlich erschien ihr ganz besonders schön, daß oben auf der Erde die Blumen dufteten, denn das thaten sie auf dem Grunde des Meeres nicht, und daß die Wälder grün wären, und daß die Fische, die man dort zwischen den Bäumen erblickte, so laut und herrlich singen könnten, daß es eine Lust sei. Es waren die kleinen Vögel, welche die Großmutter Fische nannte, denn sonst konnten sie sie nicht verstehen, da sie noch keinen Vogel erblickt hatten.

"Wenn Ihr Euer funfzehntes Jahr erreicht habt," sagte die Großmutter, "dann sollt Ihr die Erlaubniß erhalten, aus dem Meere emporzutauchen, im Mondschein auf der Klippe zu sitzen und die großen Schiffe, die vorbeisegeln, zu sehen. Wälder und Städte werdet Ihr dann erblicken!" In dem kommenden Jahre war die eine der Schwestern funfzehn Jahr, aber von den andern war die eine immer ein Jahr jünger, als die andere; die jüngste von ihnen hatte demnach noch volle fünf Jahre, bevor sie aus dem Grunde des Meeres hinaufkommen und sehen konnte, wie es bei uns aussehe. Aber die Eine versprach der Andern, zu erzählen, was sie erblickt und was sie am ersten Tage am schönsten gefunden habe; denn ihre Großmutter erzählte ihnen nicht genug; da war so Vieles, worüber sie Auskunft haben wollten.

Keine war so sehnsüchtig, als die Jüngste, gerade sie, die noch die längste Zeit zu warten hatte und die so still und gedankenvoll war. Manche Nacht stand sie am offenen Fenster und sah durch das dunkelblaue Wasser empor, wie die Fische mit ihren Flossen und Schweifen plätscherten. Mond und Sterne konnte sie sehen; freilich schienen diese ganz bleich, aber durch das Wasser sahen sie weit größer aus, als vor unsern Augen. Zog dann etwas, einer schwarzen Wolke gleich, unter ihnen hin: so wußte sie, daß es entweder ein Walfisch sei, der über ihr schwamm, oder auch ein Schiff mit vielen Menschen; die dachten sicher nicht daran, daß eine liebliche kleine Seejungfrau unten stehe und ihre weißen Hände gegen den Kiel emporstrecke.

Nun war die älteste Prinzessin funfzehn Jahr und durfte zu der Meeresfläche emporsteigen.

Als sie zurückkehrte, hatte sie Hunderterlei zu erzählen, aber das Schönste, sagte sie, sei, im Mondschein auf einer Sandbank in der ruhigen See zu liegen und nahebei die Küste mit der großen Stadt zu betrachten, wo die Lichter gleich hundert Sternen blinkten, die Musik und den Lärm und das Toben von Wagen und Menschen zu hören, die vielen Kirchthürme zu sehen und das Läuten der Glocken zu vernehmen. Gerade weil sie nicht da hinauf gelangen konnte, sehnte sie sich am allermeisten nach allem Diesen.

O! wie horchte nicht die jüngste Schwester auf, und wenn sie später des Abends am offenen Fenster stand und durch das dunkelblaue Wasser emporblickte, gedachte sie der großen Stadt mit all dem Lärmen und Toben; und dann glaubte sie die Kirchenglocken bis zu sich herunter läuten hören zu können.

Im folgenden Jahre erhielt die zweite Schwester die Erlaubniß, aus dem Wasser emporzusteigen und zu schwimmen, wohin sie wolle. Sie tauchte auf, gerade als die Sonne unterging, und dieser Anblick, fand sie, sei das Schönste. Der ganze Himmel habe wie Gold ausgesehen, sagte sie, und die Wolken, ja, deren Schönheit konnte sie nicht genug beschreiben! Roth und violet waren sie über ihr dahin gesegelt, aber weit schneller, als diese, flog, einem langen weißen Schleier gleich, ein Schwarm wilder Schwäne über das Wasser hin, wo die Sonne stand. Sie schwamm derselben entgegen, aber die Sonne sank und der Rosenschein erlosch auf der Meeresfläche und in den Wolken.

Das Jahr darauf kam die dritte Schwester hinauf. Sie war die dreisteste von allen, deshalb schwamm sie einen breiten Fluß aufwärts, der in das Meer ausmündete. Herrliche grüne Hügel mit Weinranken erblickte sie; Schlösser und Burgen schimmerten durch prächtige Wälder hervor; sie hörte, wie alle Vögel sangen; und die Sonne schien so warm, daß sie oft unter das Wasser tauchen mußte, um ihr brennendes Antlitz abzukühlen. In einer kleinen Bucht traf sie einen ganzen Schwarm kleiner Menschenkinder. Diese waren völlig nackt und plätscherten im Wasser; sie wollte mit ihnen spielen, aber die flohen erschrocken davon, und es kam ein kleines schwarzes Thier, das war ein Hund - aber sie hatte nie einen Hund gesehen -, der bellte sie so erschrecklich an, daß sie ängstlich wurde und die offene See zu erreichen suchte. Doch nie konnte sie die prächtigen Wälder, die grünen Hügel und die niedlichen Kinder vergessen, die im Wasser schwimmen konnten, obgleich sie keinen Fischschwanz hatten.

"Die vierte Schwester war nicht so dreist; sie blieb draußen mitten im wilden Meere und erzählte, daß es gerade dort am schönsten sei! Man sehe rings umher viele Meilen weit, und der Himmel stehe wie eine Glasglocke darüber. Schiffe hatte sie gesehen, aber nur in weiter Ferne; die sahen wie Möven aus, und die possirlichen Delphine hatten Purzelbäume geschossen, und die großen Walfische aus ihren Nasenlöchern Wasser emporgespritzt, sodaß es ausgesehen hatte, wie Hunderte von Springbrunnen rings umher.

Nun kam die Reihe an die fünfte Schwester; ihr Geburtstag war gerade im Winter, und deshalb sah sie, was die andern das erste Mal nicht gesehen hatten. Die See nahm sich ganz grün aus, und rings umher schwammen große Eisberge; ein jeder sah wie eine Perle aus, sagte sie, und war doch weit größer, als die Kirchthürme, welche die Menschen bauen. Sie zeigten sich in den sonderbarsten Gestalten und glänzten wie Diamanten. Sie hatte sich auf einen der allergrößten gesetzt, und alle Segler kreuzten erschrocken draußen herum, wo sie saß und den Wind mit ihrem langen Haare spielen ließ; aber gegen Abend wurde der Himmel mit Wolken überzogen; es blitzte und donnerte, während die schwarze See die großen Eisblöcke hoch emporhob und sie im rothen Blitz erglänzen ließ. Auf allen Schiffen reffte man die Segel ein; da war eine Angst und ein Grauen. Aber sie saß ruhig auf ihrem schwimmenden Eisberge und sah die blauen Blitzstrahlen im Zickzack in die schimmernde See fahren.

Das erste Mal, wenn eine der Schwestern über das Wasser emporkam, war eine jede entzückt über das Neue und Schöne, was sie erblickte; aber da sie nun, als erwachsene Mädchen, die Erlaubniß hatten, hinaufzusteigen, wann sie wollten, wurde es ihnen gleichgültig. Sie sehnten sich wieder zurück, und nach Verlauf eines Monats sagten sie, daß es da unten bei ihnen am allerschönsten sei: da sei man so hübsch zu Hause.

In mancher Abendstunde faßten die fünf Schwestern einander an den Armen und stiegen in einer Reihe über das Wasser auf; herrliche Stimmen hatten sie, schöner denn irgend ein Mensch: und wenn dann ein Sturm im Anzuge war, sodaß sie vermuthen konnten, es würden Schiffe untergehen, schwammen sie vor den Schiffen her und besangen so lieblich, wie schön es auf dem Grunde des Meeres sei, und baten die Seeleute, sich nicht zu fürchten, da hinunterzukommen. Aber die konnten die Worte nicht verstehen und glaubten, es sei der Sturm, und sie bekamen auch die Herrlichkeit dort unten nicht zu sehen, denn wenn das Schiff sank, ertranken die Menschen und kamen als Leichen zu des Meerkönigs Schloß.

Wenn die Schwestern so des Abends, Arm in Arm, hoch durch das Wasser hinaufstiegen, dann stand die kleinste Schwester ganz allein und sah ihnen nach; und es war ihr, als ob sie weinen müßte; aber die Seejungfrau hat keine Thränen, und darum leidet sie weit mehr.

"Ach, wäre ich doch funfzehn Jahr alt!" sagte sie. "Ich weiß, daß ich die Welt dort oben und die Menschen, die darauf wohnen und hausen, recht lieben werde."

Endlich war sie denn funfzehn Jahr alt.

"Sieh, nun bist Du erwachsen," sagte die Großmutter, die alte Königswittwe. "Komm nun, laß mich Dich schmücken, gleich Deinen andern Schwestern!" Und sie setzte ihr einen Kranz weißer Lilien auf das Haar; aber jedes Blatt in der Blume war die Hälfte einer Perle; und die Alte ließ acht große Austern sich im Schweife der Prinzessin festklemmen, um ihren hohen Rang zu zeigen.


"Das tut so weh!" sagte die kleine Seejungfrau.

"Ja, Hoffahrt muß Zwang leiden!" sagte die Alte.


O, sie hätte so gern alle diese Pracht abschütteln und den schweren Kranz ablegen mögen; ihre roten Blumen im Garten kleideten sie besser; aber sie konnte es nun nicht ändern. "Lebt wohl!" sprach sie, und stieg so leicht und klar, gleich einer Blase, aus dem Wasser auf.

Die Sonne war gerade untergegangen, als sie den Kopf über das Wasser erhob; aber alle Wolken glänzten noch wie Rosen und Gold: und inmitten der bleichrothen Luft strahlte der Abendstern so hell und schön; die Luft war mild und frisch und das Meer ganz ruhig. Da lag ein großes Schiff mit drei Masten; ein einziges Segel war nur aufgezogen, denn es rührte sich kein Lüftchen; und rings umher im Tauwerk und auf den Raaen saßen Matrosen. Da war Musik und Gesang, und wie der Abend dunkler ward, wurden Hunderte von bunten Laternen angezündet; die sahen aus, als ob aller Nationen Flaggen in der Luft weheten. Die kleine Seejungfrau schwamm gerade bis zum Kajütenfenster hin, und jedes Mal, wenn das Wasser sie emporhob, konnte sie durch die spiegelhellen Fensterscheiben hineinblicken, wo so viele geputzte Menschen standen. Aber der Schönste war doch der junge Prinz mit den großen schwarzen Augen; er war sicher nicht viel über sechzehn Jahr alt; es war sein Geburtstag, und deshalb herrschte all diese Pracht. Die Matrosen tanzten auf dem Verdecke; und als der junge Prinz heraustrat, stiegen über hundert Raketen in die Luft; die leuchteten wie der helle Tag, sodaß die kleine Seejungfrau sehr erschrak und unter das Wasser tauchte; aber sie streckte bald den Kopf wieder hervor, und da war es gerade, als ob alle Sterne des Himmels zu ihr herunterfielen. Nie hatte sie solche Feuerkünste gesehen! Große Sonnen sprühten herum, prächtige Feuerfische flogen in die blaue Luft, und Alles glänzte in der klaren, stillen See wieder. Auf dem Schiffe selbst war es so hell, daß man jedes kleine Tau, wie viel mehr nicht die Menschen, sehen konnte. O wie war doch der junge Prinz schön; und er drückte den Leuten die Hände und lächelte, während die Musik in der herrlichen Nacht erklang.

Es wurde spät, aber die kleine Seejungfrau konnte ihre Augen nicht von dem Schiffe und dem schönen Prinzen wegwenden. Die bunten Laternen wurden ausgelöscht, Raketen stiegen nicht mehr in die Höhe, es ertönten auch keine Kanonenschüsse mehr; aber tief unten im Meere summte und brummte es; inzwischen saß sie auf dem Wasser und schaukelte auf und nieder, sodaß sie in die Kajüte hineinblicken konnte. Aber das Schiff bekam mehr Fahrt; ein Segel nach dem andern breitete sich aus; nun gingen die Wogen stärker; große Wolken zogen auf; es blitzte in der Ferne. O, es wird ein schrecklich böses Wetter werden! Deshalb zogen die Matrosen die Segel ein. Das große Schiff schaukelte in fliegender Fahrt auf der wilden See; das Wasser erhob sich, gleich großen schwarzen Bergen, die über die Maste rollen wollten; aber das Schiff tauchte, einem Schwane gleich, zwischen den hohen Wogen nieder, und ließ sich wieder auf die hochgethürmten Wasser heben. Der kleinen Seejungfrau dünkte es gerade eine recht lustige Fahrt zu sein, aber so erschien es den Seeleuten nicht; das Schiff knackte und krachte; die dicken Planken bogen sich bei den starken Stößen; die See stürzte in das Schiff hinein; der Mast brach mitten durch, gerade als ob es ein Rohr wäre, und das Schiff legte sich auf die Seite, während das Wasser in den Raum eindrang. Nun sah die kleine Seejungfrau, daß sie in Gefahr waren; sie mußte sich selbst vor Balken und Stücken vom Schiffe, die auf dem Wasser trieben, in Acht nehmen. Einen Augenblick war es so pechfinster, daß sie nicht das Mindeste wahrnehmen konnte; aber wenn es dann blitzte, wurde es wieder so hell, daß sie Alle auf dem Schiffe erkennen konnte; besonders suchte sie den jungen Prinzen, und sie sah ihn, als das Schiff sich theilte, in das tiefe Meer versinken. Sogleich wurde sie ganz vergnügt, denn nun kam er zu ihr hinunter. Aber da gedachte sie, daß die Menschen nicht im Wasser leben können, und daß er nicht anders als todt zum Schlosse ihres Vaters hinuntergelangen konnte. Nein sterben, das durfte er nicht; deshalb schwamm sie hin zwischen Balken und Planken, die auf der See trieben, und vergaß völlig, daß diese sie hätten zerquetschen können. Sie tauchte tief unter das Wasser und stieg wieder hoch zwischen den Wogen empor, und gelangte am Ende so zu dem jungen Prinzen hin, der fast nicht länger in der stürmischen See schwimmen konnte. Seine Arme und Beine begannen zu ermatten; die schönen Augen schlossen sich; er hätte sterben müssen, wäre die kleine Seejungfrau nicht hinzugekommen. Sie hielt seinen Kopf über das Wasser empor, und ließ sich dann mit ihm von den Wogen treiben, wohin sie wollten.

Am Morgen war das böse Wetter vorüber; von dem Schiffe war kein Spahn zu erblicken; die Sonne stieg so roth und glänzend aus dem Wasser empor; es war, als ob des Prinzen Wangen Leben dadurch erhielten; aber die Augen blieben geschlossen. Die Seejungfrau küßte seine hohe, schöne Stirn und strich sein nasses Haar zurück; es kam ihr vor, als gleiche er der Marmorstatue in ihrem kleinen Garten; sie küßte ihn wieder und wünschte, daß er doch leben möchte.

Nun erblickte sie vor sich das feste Land: hohe blaue Berge; auf deren Gipfel der weiße Schnee erglänzte, als wären es Schwäne, die dort lägen. Unten an der Küste waren herrliche grüne Wälder, und vorn lag eine Kirche oder ein Kloster, das wußte sie nicht recht, aber ein Gebäude war es. Citronen- und Apfelsinenbäume wuchsen im Garten, und vor dem Thore standen hohe Palmbäume. Die See bildete hier eine kleine Bucht; da war es ganz still, aber sehr tief; gerade auf die Klippe zu, wo der weiße, feine Sand aufgespült war, schwamm sie mit dem schönen Prinzen hin, legte ihn in den Sand, sorgte aber besonders dafür, daß der Kopf hoch im warmen Sonnenschein lag.

Nun läuteten die Glocken in dem großen, weißen Gebäude, und es kamen viele junge Mädchen durch den Garten. Da schwamm die kleine Seejungfrau weiter hinaus hinter einige hohe Steine, die aus dem Wasser emporragten, legte Seeschaum auf ihr Haar und ihre Brust, sodaß Niemand ihr kleines Antlitz sehen konnte, und dann paßte sie auf, wer zu dem armen Prinzen kommen würde.

Es währte nicht lange, da kam ein junges Mädchen dorthin; sie schien sehr zu erschrecken, aber nur einen Augenblick; dann holte sie mehrere Menschen, und die Seejungfrau sah, daß der Prinz zum Leben zurückkehrte, und daß er Alle rings herum anlächelte. Aber zu ihr hinaus lächelte er nicht; er wußte ja auch nicht, daß sie ihn gerettet hatte; sie fühlte sich so betrübt, und als er in das große Gebäude hineingeführt wurde, tauchte sie traurig unter das Wasser und kehrte zum Schlosse ihres Vaters zurück.

Immer war sie still und nachdenklich gewesen, aber nun wurde sie es noch weit mehr. Die Schwestern fragten sie, was sie das erste Mal dort oben gesehen habe, aber sie erzählte nichts.

Manchen Abend und Morgen stieg sie da hinauf, wo sie den Prinzen verlassen hatte. Sie sah, wie die Früchte des Gartens reiften und abgepflückt wurden; sie sah, wie der Schnee auf den hohen Bergen schmolz; aber den Prinzen erblickte sie nicht, und deshalb kehrte sie immer betrübter heim. Da war es ihr einziger Trost, in ihrem kleinen Garten zu sitzen und die Arme um die schöne Marmorstatue zu schlingen, die dem Prinzen glich; aber ihre Blumen pflegte sie nicht; die wuchsen, wie in einer Wildniß, über die Gänge hinaus und flochten ihre langen Stiele und Blätter in die Zweige der Bäume hinein, sodaß es dort ganz dunkel war.

Zuletzt konnte sie es nicht länger aushalten, sondern sagte es einer ihrer Schwestern; und da erfuhren es gleich alle andern, aber auch Niemand sonst, als diese und ein paar andere Seejungfrauen, die es nicht weiter sagten, außer ihren nächsten Freundinnen. Eine von ihnen wußte, wer der Prinz war; sie hatte auch das Fest auf dem Schiffe gesehen und gab an, woher er war und wo sein Königreich lag.

"Komm, kleine Schwester!" sagten die andern Prinzessinnen; und, sich umschlungen haltend, stiegen sie in einer langen Reihe aus dem Meere empor, wo sie wußten, daß des Prinzen Schloß lag.

Dieses war aus einer hellgelben glänzenden Steinart aufgeführt, mit großen Marmortreppen, deren eine gerade in das Meer hinunterreichte. Prächtige, vergoldete Kuppeln erhoben sich über dem Dach, und zwischen den Säulen, die um das ganze Gebäude herumliefen, standen Marmorbilder, die sahen aus, als lebten sie. Durch das klare Glas in den hohen Fenstern blickte man in die prächtigen Säle hinein, wo köstliche Seidengardinen und Teppiche aufgehängt und alle Wände mit großen Gemälden geziert waren, sodaß es ein wahres Vergnügen war, es zu betrachten. Mitten in dem größten Saale plätscherte ein großer Springbrunnen; seine Strahlen reichten hoch hinauf gegen die Glaskuppel in der Decke, durch welche die Sonne auf das Wasser und die schönen Pflanzen schien, die im großen Bassin wuchsen.

Nun wußte sie, wo er wohnte, und dort war sie manchen Abend und manche Nacht auf dem Wasser. Sie schwamm dem Lande weit näher, als eine der andern es gewagt hatte; ja, sie ging den schmalen Kanal ganz hinauf, unter den prächtigen Marmoraltan, welcher einen langen Schatten über das Wasser warf. Hier saß sie und betrachtete den jungen Prinzen, der da glaubte, er sei ganz allein in dem hellen Mondschein.

Sie sah ihn manchen Abend mit Musik in seinem prächtigen Boote segeln, auf dem Flaggen wehten; sie lauschte durch das grüne Schilf hervor, und ergriff der Wind ihren langen silberweißen Schleier, und Jemand sah ihn, so glaubte er, es sei ein Schwan, der die Flügel ausbreite.

Sie hörte in mancher Nacht, wenn die Fischer mit Fackeln auf der See waren, daß sie so viel Gutes von dem jungen Prinzen erzählten; und es freute sie, daß sie sein Leben gerettet hatte, als er halbtodt auf den Wogen umhertrieb; und sie dachte daran, wie fest sein Haupt an ihrem Busen geruht, und wie herzlich sie ihn da geküßt hatte; er aber wußte gar nichts davon und konnte nicht einmal von ihr träumen.

Mehr und mehr fing sie an, die Menschen zu lieben; mehr und mehr wünschte sie, unter ihnen umherwandeln zu können, deren Welt ihr weit größer zu sein schien als die ihrige. Sie konnten ja auf Schiffen über das Meer fliegen, auf den hohen Bergen hoch über die Wolken emporsteigen; und die Länder, die sie besaßen, erstreckten sich mit Wäldern und Feldern weiter als ihre Blicke reichten. Da war so Vieles, was sie zu wissen wünschte; aber die Schwestern wußten ihr nicht Alles zu beantworten, deshalb fragte sie die alte Großmutter; und diese kannte die höhere Welt recht gut, die sie sehr richtig die Länder über dem Meere nannte.

"Wenn die Menschen nicht ertrinken," fragte die kleine Seejungfrau, "können sie dann ewig leben? Sterben sie nicht, wie wir hier unten im Meere?"

"Ja," sagte die Alte; "sie müssen auch sterben, und ihre Lebenszeit ist sogar noch kürzer, als die unsere. Wir können dreihundert Jahr alt werden, aber wenn wir dann aufhören, hier zu sein, so werden wir nur in Schaum auf dem Wasser verwandelt, haben nicht einmal ein Grab hier unter unsern Lieben. Wir haben keine unsterbliche Seele; wir erhalten nie wieder Leben; wir sind gleich dem grünen Schilf; ist das einmal durchschnitten, so kann es nicht wieder grünen! Die Menschen hingegen haben eine Seele, die ewig lebt, die noch lebt, nachdem der Körper zu Erde geworden ist; sie steigt durch die klare Luft empor, hinauf zu allen den glänzenden Sternen! So wie wir aus dem Wasser austauchen und die Länder der Menschen erblicken, so steigen sie zu unbekannten herrlichen Orten auf, die wir nie zu sehen bekommen."

"Weshalb bekamen wir keine unsterbliche Seele?" fragte die kleine Seejungfrau betrübt. "Ich möchte alle meine Hunderte von Jahren, die ich zu leben habe, dafür geben, um nur einen Tag ein Mensch zu sein und dann hoffen zu können, Antheil an der himmlischen Welt zu haben."

"Daran darfst Du nicht denken!" sagte die Alte. "Wir fühlen uns weit glücklicher und besser als die Menschen dort oben!"

"Ich werde also sterben und als Schaum auf dem Meere treiben, nicht die Musik der Wogen hören, die schönen Blumen und die rothe Sonne sehen? Kann ich denn gar nichts thun, um eine unsterbliche Seele zu gewinnen?" -

"Nein!" sagte die Alte. "Nur wenn ein Mensch Dich so lieben würde, daß Du ihm mehr als Vater und Mutter wärest; wenn er mit all seinem Denken und all seiner Liebe an Dir hinge und den Prediger seine rechte Hand in die Deinige, mit dem Versprechen der Treue hier und in alle Ewigkeit, legen ließe: dann flösse seine Seele in Deinen Körper über, und auch Du erhieltest Antheil an der Glückseligkeit der Menschen. Er gäbe Dir Seele und behielte doch seine eigene. Aber das kann nie geschehen! Was hier im Meere gerade schön ist: Dein Fischschwanz, finden sie dort auf der Erde häßlich; sie verstehen es eben nicht besser; man muß dort zwei plumpe Stützen haben, die sie Beine nennen, um schön zu sein!"

Da seufzte die kleine Seejungfrau und sah betrübt auf ihren Fischschwanz.

"Laßt uns froh sein," sagte die Alte; "hüpfen und springen wollen wir in den dreihundert Jahren, die wir zu leben haben; das ist wahrlich lang genug; später kann man sich um so besser ausruhen. Heute Abend werden wir Hofball haben!"

Das war auch eine Pracht, wie man sie nie auf Erden erblickt. Die Wände und die Decke des großen Tanzsaales waren von dickem, aber durchsichtigem Glase. Mehrere hundert kolossale Muschelschalen, rosenrothe und grasgrüne, standen zu jeder Seite in Reihen mit einem blau brennenden Feuer, welches den ganzen Saal erleuchtete und durch die Wände hinausschien, sodaß die See draußen ganz beleuchtet war; man konnte all die unzähligen Fische sehen, große und kleine, die gegen die Glasmauer hinschwammen; auf einigen glänzten die Schuppen purpurroth, auf andern erschienen sie wie Silber und Gold. - Mitten durch den Saal floß ein breiter Strom, und auf diesem tanzten die Meermänner und Meerweibchen zu ihrem eigenen lieblichen Gesang. So schöne Stimmen haben die Menschen auf der Erde nicht. Die kleine Seejungfrau sang am schönsten von ihnen Allen, und der ganze Hof applaudirte mit Händen und Schwänzen; und einen Augenblick fühlte sie eine Freude in ihrem Herzen, denn sie wußte, daß sie die schönste Stimme von Allen auf der Erde und im Meere hatte! Aber bald gedachte sie wieder der Welt oben über sich; sie konnte den hübschen Prinzen und ihren Kummer, daß sie keine unsterbliche Seele, wie er, besitze, nicht vergessen. Deshalb schlich sie sich aus ihres Vaters Schloß hinaus, und während Alles drinnen Gesang und Frohsinn war, saß sie betrübt in ihrem kleinen Garten. Da hörte sie das Waldhorn durch das Wasser ertönen und dachte: Nun segelt er sicher dort oben, er, an dem meine Sinne hängen und in dessen Hand ich meines Lebens Glück legen möchte. Alles will ich wagen, um ihn und eine unsterbliche Seele zu gewinnen! Während meine Schwestern dort in meines Vaters Schloß tanzen, will ich zur Meerhexe gehen, vor der ich immer so bange gewesen bin; aber sie kann vielleicht rathen und helfen!

Nun ging die kleine Seejungfrau aus ihrem Garten hinaus nach den brausenden Strudeln hin, hinter denen die Hexe wohnte. Den Weg hatte sie früher nie zurückgelegt; da wuchsen keine Blumen, kein Seegras; nur der nackte, graue Sandboden erstreckte sich gegen die Strudel hin, wo das Wasser gleich brausenden Mühlrädern herum wirbelte und Alles, was es erfaßte, mit sich in die Tiefe riß. Mitten zwischen diesen zermalmenden Wirbeln mußte sie hindurch, um in den Bereich der Meerhexe zu gelangen; und hier war eine lange Strecke kein anderer Weg, als über warmen, sprudelnden Schlamm; diesen nannte die Hexe ihren Torfmoor. Dahinter, lag ihr Haus mitten in einem seltsamen Walde, alle Bäume und Büsche waren Polypen, halb Thier und halb Pflanze; sie sahen aus wie hundertköpfige Schlangen, die aus der Erde hervorwuchsen; alle Zweige waren lange, schleimige Arme, mit Fingern wie geschmeidige Würmer; und Glied vor Glied bewegten sie sich von der Wurzel bis zur äußersten Spitze. Alles, was sie im Meere erfassen konnten, umschlangen sie fest und ließen es nie wieder fahren. Die kleine Seejungfrau blieb vor denselben ganz erschreckt stehen; ihr Herz pochte vor Furcht; fast wäre sie umgekehrt; aber da dachte sie an den Prinzen und an die Seele der Menschen, und nun bekam sie Muth. Ihr langes, fliegendes Haar band sie fest um das Haupt, damit die Polypen sie nicht daran ergreifen möchten; beide Hände legte sie über ihre Brust zusammen, und schoß so davon, wie der Fisch durch das Wasser schießen kann, zwischen den häßlichen Polypen hindurch, die ihre geschmeidigen Arme und Finger hinter ihr her streckten. Sie sah, wie jeder von ihnen etwas, was er ergriffen hatte, mit Hunderten von kleinen Armen hielt, gleich starken Eisenbanden. Menschen, die auf der See umgekommen und tief hinuntergesunken waren, sahen als weiße Gerippe aus der Polypen Armen hervor. Schiffsruder und Kisten hielten sie fest, auch Skelette von Landthieren und ein kleines Meerweib, welches sie gefangen und erstickt hatten: das war ihr fast das Erschrecklichste.

Nun kam sie zu einem großen sumpfigen Platz im Walde, wo große, fette Wasserschlangen sich wälzten und ihren häßlichen weißgelben Bauch zeigten. Mitten auf dem Platze war ein Haus, von weißen Knochen gestrandeter Menschen errichtet: da saß die Meerhexe und ließ eine Kröte aus ihrem Munde fressen, gerade wie die Menschen einem kleinen Kanarienvogel Zucker zu essen geben. Die häßlichen fetten Wasserschlangen nannte sie ihre kleinen Küchlein und ließ sie sich auf ihrer großen schwammigen Brust wälzen.

"Ich weiß schon, was Du willst!" sagte die Meerhexe. "Es ist zwar dumm von Dir, doch sollst Du Deinen Willen haben, denn er wird Dich ins Unglück stürzen, meine schöne Prinzessin. Du willst gern Deinen Fischschwanz los sein und statt dessen zwei Stützen, gleich wie die Menschen zum Gehen haben, damit der junge Prinz verliebt in Dich werden möge und Du ihn und eine unsterbliche Seele erhalten kannst!" Dabei lachte die Hexe laut und widerlich, sodaß die Kröte und die Schlangen auf die Erde fielen, wo sie sich wälzten. "Du kommst gerade zur rechten Zeit," sagte die Hexe; "morgen, wenn die Sonne aufgeht, könnte ich Dir nicht helfen, bis wieder ein Jahr um wäre. Ich werde Dir einen Trank bereiten, mit dem mußt Du, bevor die Sonne aufgeht, nach dem Lande schwimmen, Dich dort an das Ufer setzen und ihn trinken; dann verschwindet Dein Schwanz und schrumpft zu Dem, was die Menschen niedliche Beine nennen, zusammen; aber es thut wehe; es ist, als ob ein scharfes Schwert Dich durchdringe. Alle, die Dich sehen, werden sagen, Du seiest das schönste Menschenkind, das sie gesehen hätten. Du behältst Deinen schwebenden Gang: keine Tänzerin kann sich so leicht bewegen, wie Du; aber jeder Schritt, den Du machst, ist, als ob Du auf scharfe Messer trätest, als ob Dein Blut fließen müßte. Willst Du alles Dieses leiden, so werde ich Dir helfen!"

"Ja!" sagte die kleine Seejungfrau mit bebender Stimme, und gedachte des Prinzen und der unsterblichen Seele.

"Aber bedenke," sagte die Hexe; "hast Du erst menschliche Gestalt bekommen, so kannst Du nie wieder eine Seejungfrau werden! Du kannst nie durch das Wasser zu Deinen Schwestern und zum Schlosse Deines Vaters zurückkehren, und gewinnst Du des Prinzen Liebe nicht, sodaß er um Deinetwillen Vater und Mutter vergißt, an Dir mit Leib und Seele hängt und den Priester Eure Hände ineinander legen läßt, daß Ihr Mann und Frau werdet: so bekommst Du keine unsterbliche Seele! Am ersten Morgen, nachdem er mit einer Andern verheirathet ist, wird Dein Herz brechen, und Du wirst zu Schaum auf dem Wasser."

"Ich will es," sagte die kleine Seejungfrau und war bleich wie der Tod.

"Aber mich mußt Du auch bezahlen!" sagte die Hexe; "und es ist nicht wenig, was ich verlange. Du hast die schönste Stimme von Allen hier auf dem Grunde des Meeres; damit glaubtest Du wohl ihn bezaubern zu können; aber diese Stimme mußt Du mir geben. Das Beste, was Du besitzest, will ich für meinen köstlichen Trank haben! Mein eigen Blut muß ich Dir ja darin geben, damit der Trank scharf werde, wie ein zweischneidig Schwert!"

"Aber wenn Du meine Stimme nimmst," sagte die kleine Seejungfrau, "was bleibt mir dann übrig?"

"Deine schöne Gestalt," sagte die Hexe, "Dein schwebender Gang und Deine sprechenden Augen; damit kannst Du schon ein Menschenherz bethören. Nun, hast Du den Muth verloren? Strecke Deine kleine Zunge hervor, dann schneide ich sie an Zahlungsstatt ab, und Du erhältst den kräftigen Trank!"

"Es geschehe!" sagte die kleine Seejungfrau; und die Hexe setzte ihren Kessel auf, um den Zaubertrank zu kochen. "Reinlichkeit ist eine schöne Sache!" sagte sie und scheuerte den Kessel mit den Schlangen ab, die sie in einen langen Knoten band; dann ritzte sie sich selbst die Brust und ließ ihr schwarzes Blut hineintröpfeln. Der Dampf bildete die sonderbarsten Gestalten, sodaß Einem Angst und bange werden mußte. Jeden Augenblick warf die Hexe neue Sachen in den Kessel, und als er recht kochte, war es, als ob ein Krokodil weinte. Endlich war der Trank fertig; er sah wie das klarste Wasser aus!

"Da hast Du ihn!" sagte die Hexe und schnitt der kleinen Seejungfrau die Zunge ab, die nun stumm war, weder singen, noch sprechen konnte.

"Sollten die Polypen Dich ergreifen, wenn Du durch meinen Wald zurückkehrst," sagte die Hexe, "so wirf nur einen einzigen Tropfen dieses Getränkes auf sie: davon zerspringen ihre Arme und Finger in tausend Stücke!" Aber das brauchte die kleine Seejungfrau nicht zu thun; die Polypen zogen sich erschrocken vor ihr zurück, da sie den glänzenden Trank erblickten, der in ihrer Hand leuchtete, als sei es ein funkelnder Stern. So kam sie schnell durch den Wald, den Moor und die brausenden Strudel.

Sie konnte ihres Vaters Schloß sehen; die Fackeln waren in dem großen Tanzsaale erloschen; sie schliefen sicher Alle drinnen; aber sie wagte doch nicht, sie aufzusuchen, nun da sie stumm war und sie auf immer verlassen wollte. Es war, als ob ihr Herz vor Trauer zerspringen sollte. Sie schlich in den Garten, nahm eine Blume von jedem Blumenbeete ihrer Schwestern, warf Tausende von Kußhändchen dem Schlosse zu und stieg durch die dunkelblaue See hinauf.

Die Sonne war noch nicht aufgegangen, als sie des Prinzen Schloß erblickte und die prächtige Marmortreppe bestieg. Der Mond schien herrlich klar. Die kleine Seejungfrau trank den brennenden, scharfen Trank, und es war, als ginge ein zweischneidiges Schwert durch ihren feinen Körper; sie fiel dabei in Ohnmacht und lag wie todt da. Als die Sonne über die See schien, erwachte sie und fühlte einen schneidenden Schmerz; aber gerade vor ihr stand der schöne junge Prinz, er heftete seine kohlschwarzen Augen auf sie, sodaß sie die ihrigen niederschlug und wahrnahm, daß ihr Fischschwanz fort war und sie die niedlichsten kleinen, weißen Beine hatte, die nur ein kleines Mädchen haben kann. Aber sie war ganz nackt, deshalb hüllte sie sich in ihr großes, langes Haar ein. Der Prinz fragte, wer sie sei und wie sie dahin gekommen wäre; und sie sah ihn milde und doch so betrübt mit ihren dunkelblauen Augen an; sprechen konnte sie ja nicht. Da nahm er sie bei der Hand und führte sie in das Schloß hinein. Jeder Schritt, den sie that, war, wie die Hexe ihr im Voraus gesagt hatte, als trete sie auf spitze Nadeln und scharfe Messer; aber das ertrug sie gern; an des Prinzen Hand schritt sie so leicht einher, wie eine Seifenblase, und er, sowie Alle, wunderten sich über ihren lieblichen, schwebenden Gang.

Sie bekam nun köstliche Kleider von Seide und Musselin anzuziehen; im Schlosse war sie die Schönste von Allen; aber sie war stumm, konnte weder singen, noch sprechen. Herrliche Sklavinnen, in Seide und Gold gekleidet, traten auf und sangen vor dem Prinzen und seinen königlichen Eltern; die Eine sang schöner als alle Andern, und der Prinz klatschte in die Hände und lächelte sie an. Da wurde die kleine Seejungfrau sehr betrübt; sie wußte, daß sie selbst weit schöner gesungen hatte, und dachte: "O, er sollte nur wissen, daß ich, um bei ihm zu sein, meine Stimme für alle Ewigkeit hingegeben habe!"

Nun tanzten die Sklavinnen niedliche, schwebende Tänze zur herrlichsten Musik; da erhob die kleine Seejungfrau ihre schönen, weißen Arme, richtete sich auf den Fußspitzen auf und schwebte tanzend über den Fußboden hin, wie noch keine getanzt hatte; bei jeder Bewegung wurde ihre Schönheit noch sichtbarer, und ihre Augen sprachen tiefer zum Herzen, als der Gesang der Sklavinnen.

Alle waren entzückt davon, besonders der Prinz, der sie sein kleines Findelkind nannte; und sie tanzte mehr und mehr, obgleich es jedesmal, wenn ihr Fuß die Erde berührte, war, als ob sie auf scharfe Messer träte. Der Prinz sagte, daß sie immer bei ihm bleiben solle, und sie erhielt die Erlaubniß, vor seiner Thüre auf einem Sammetkissen zu schlafen.

Er ließ ihr eine Männertracht machen, damit sie ihn zu Pferde begleiten könne. Sie ritten durch die duftenden Wälder, wo die grünen Zweige ihre Schultern berührten und die kleinen Vögel hinter den frischen Blättern sangen. Sie kletterte mit dem Prinzen auf die hohen Berge hinauf, und obgleich ihre zarten Füße bluteten, sodaß die andern es sehen konnten, lachte sie doch darüber und folgte ihm, bis sie die Wolken unter sich segeln sahen, als wäre es ein Schwarm Vögel, die nach fremden Ländern zögen.

Zu Hause in des Prinzen Schloß, wenn Nachts die Andern schliefen, ging sie auf die breite Marmortreppe hinaus; und es kühlte ihre brennenden Füße, im kalten Seewasser zu stehen, und dann gedachte sie Derer dort unten in der Tiefe.

Einmal des Nachts kamen ihre Schwestern Arm in Arm; sie sangen so traurig, indem sie über dem Wasser schwammen; und sie winkte ihnen, und sie erkannten sie und erzählten, wie sehr sie sie Alle betrübt habe. Darauf besuchte sie dieselben in jeder Nacht, und einmal erblickte sie weit draußen ihre alte Großmutter, die in vielen Jahren nicht über der Meeresfläche gewesen war, und den Meerkönig mit seiner Krone auf dem Haupte; sie streckten die Hände nach ihr aus, wagten sich aber dem Lande nicht so nahe, wie die Schwestern.

Tag für Tag wurde sie dem Prinzen lieber; er liebte sie, wie man ein gutes, liebes Kind liebt; aber sie zu seiner Königin zu machen, kam ihm nicht in den Sinn; und seine Frau mußte sie doch werden, sonst erhielt sie keine unsterbliche Seele und mußte an seinem Hochzeitsmorgen zu Schaum auf dem Meere werden.

"Liebst Du mich nicht am meisten von ihnen Allen?" schienen der kleinen Seejungfrau Augen zu sagen, wenn er sie in seine Arme nahm und ihre schöne Stirn küßte.

"Ja, Du bist mir die Liebste," sagte der Prinz, "denn Du hast das beste Herz von Allen. Du bist mir am meisten ergeben, und Du gleichst einem jungen Mädchen, das ich einmal sah, aber sicher nie wiederfinde. Ich war auf einem Schiffe, welches strandete; die Wellen warfen mich bei einem heiligen Tempel an das Land, wo mehrere junge Mädchen den Dienst verrichteten; die jüngste dort fand mich am Ufer und rettete mein Leben; ich sah sie nur zweimal; sie wäre die Einzige, die ich in dieser Welt lieben könnte; aber Du gleichst ihr und Du verdrängst fast ihr Bild aus meiner Seele; sie gehört dem heiligen Tempel an, und deshalb hat mein gutes Glück Dich mir gesendet; nie wollen wir uns trennen!" - "Ach, er weiß nicht, daß ich sein Leben gerettet habe!" dachte die kleine Seejungfrau; "ich trug ihn über das Meer zum Walde hin, wo der Tempel steht; ich saß hinter dem Schaume und sah, ob keine Menschen kommen würden. Ich sah das hübsche Mädchen, das er mehr liebt als mich!" Und die Seejungfrau seufzte tief: weinen konnte sie nicht. "Das Mädchen gehört dem heiligen Tempel an, hat er gesagt; sie kommt nie in die Welt hinaus; sie begegnen sich nicht mehr, ich bin bei ihm, sehe ihn jeden Tag; ich will ihn pflegen, lieben, ihm mein Leben opfern!"

Aber nun soll der Prinz sich verheirathen und des Nachbarkönigs schöne Tochter zur Frau bekommen, erzählte man; deshalb rüstete er ein so prächtiges Schiff aus. Der Prinz reist, um des Nachbarkönigs Länder zu besichtigen, so heißt es wohl; aber es geschieht, um des Nachbarkönigs Tochter zu sehen. Ein großes Gefolge soll ihn begleiten. Die kleine Seejungfrau schüttelte das Haupt und lächelte; sie kannte des Prinzen Gedanken weit besser als alle die Andern. "Ich muß reisen!" hatte er zu ihr gesagt; "ich muß die schöne Prinzessin sehen; meine Eltern verlangen es; aber sie wollen mich nicht zwingen, sie als meine Braut heimzuführen. Ich kann sie nicht lieben! Sie gleicht nicht dem schönen Mädchen im Tempel, der Du ähnelst; sollte ich einst eine Braut wählen, so würdest Du es eher sein; mein stummes Findelkind mit den sprechenden Augen!" Und er küßte ihren rothen Mund, spielte mit ihren langen Haaren und legte sein Haupt an ihr Herz, sodaß dieses von Menschenglück und einer unsterblichen Seele träumte.

"Du fürchtest doch das Meer nicht, mein stummes Kind?" sagte er, als sie auf dem prächtigen Schiffe standen, welches ihn nach den Ländern des Nachbarkönigs führen sollte; und er erzählte ihr vom Sturm und von der Windstille, von seltsamen Fischen in der Tiefe und von Dem, was die Taucher dort gesehen; und sie lächelte bei seiner Erzählung: sie wußte ja besser, als sonst Jemand, was auf dem Grunde des Meeres vorging.

In der mondhellen Nacht, wenn Alle schliefen, bis auf den Steuermann, der am Steuerruder stand, saß sie an dem Bord des Schiffes und starrte durch das klare Wasser hinunter; sie glaubte ihres Vaters Schloß zu erblicken; hoch oben stand die alte Großmutter mit der Silberkrone auf dem Haupte und starrte durch die reißenden Ströme zu des Schiffes Kiel empor. Da kamen ihre Schwestern über das Wasser hervor und schauten sie traurig an und rangen ihre weißen Hände; sie winkte ihnen, lächelte und wollte ihnen erzählen, daß es ihr gut und glücklich ginge; aber der Schiffsjunge näherte sich ihr und die Schwestern tauchten unter, sodaß er glaubte, das Weiße, was er gesehen, sei Schaum auf der See gewesen.

Am nächsten Morgen segelte das Schiff in den Hafen von des Nachbarkönigs prächtiger Stadt. Alle Kirchenglocken läuteten, und von den hohen Thürmen wurden die Posaunen geblasen, während die Soldaten mit fliegenden Fahnen und blitzenden Bayonnetten dastanden. Jeder Tag führte ein Fest mit sich. Bälle und Gesellschaften folgten einander; aber die Prinzessin war noch nicht da; sie werde weit davon entfernt in einem heiligen Tempel erzogen, sagten sie; dort lerne sie alle königlichen Tugenden. Endlich traf sie ein.

Die kleine Seejungfrau war begierig, ihre Schönheit zu sehen, und sie mußte solche anerkennen: eine lieblichere Erscheinung hatte sie noch nie gesehen. Die Haut war so fein und klar, und hinter den langen, dunkeln Augenwimpern lächelten ein Paar schwarzblaue treue Augen.

"Du bist es!" sagte der Prinz, "Du, die mich gerettet hat, als ich einer Leiche gleich an der Küste lag!" Und er drückte seine erröthende Braut in seine Arme. "O, ich bin allzu glücklich!" sagte er zur kleinen Seejungfrau. "Das Beste, was ich je hoffen durfte, ist mir in Erfüllung gegangen. Du wirst Dich über mein Glück freuen, denn Du meinst es am besten mit mir von ihnen Allen!" Und die kleine Seejungfrau küßte seine Hand, und es kam ihr schon vor, als fühle sie ihr Herz brechen. Sein Hochzeitsmorgen würde ihr ja den Tod geben und sie in Schaum auf dem Meere verwandeln.

Alle Kirchenglocken läuteten; die Herolde ritten in den Straßen umher und verkündeten die Verlobung. Auf allen Altären brannte duftendes Oel in köstlichen Silberlampen. Die Priester schwangen die Rauchfässer, und Braut und Bräutigam reichten einander die Hand und erhielten den Segen des Bischofs. Die kleine Seejungfrau war in Seide und Gold gekleidet und hielt die Schleppe der Braut; aber ihre Ohren hörten die festliche Musik nicht, ihr Auge sah die heilige Ceremonie nicht: sie gedachte ihrer Todesnacht und alles Dessen, was sie in dieser Welt verloren hatte.

Noch an demselben Abend gingen die Braut und der Bräutigam an Bord des Schiffes; die Kanonen donnerten, alle Flaggen wehten, und mitten auf dem Schiffe war ein köstliches Zelt von Gold und Purpur und mit den schönsten Kissen errichtet: da sollte das Brautpaar in der kühlen, stillen Nacht schlafen.

Die Segel schwellten im Winde, und das Schiff glitt leicht und ohne große Bewegung über die klare See dahin.

Als es dunkelte, wurden bunte Lampen angezündet, und die Seeleute tanzten lustige Tänze auf dem Verdecke. Die kleine Seejungfrau mußte ihres ersten Auftauchens aus dem Meere gedenken, wo sie dieselbe Pracht und Freude erblickt hatte; und sie wirbelte sich mit im Tanze, schwebte, wie die Schwalbe schwebt, wenn sie verfolgt wird; und Alle jubelten ihr Bewunderung zu; nie hatte sie so herrlich getanzt. Es schnitt wie scharfe Messer in die zarten Füße, aber sie fühlte es nicht; es schnitt ihr noch schmerzlicher durch das Herz. Sie wußte, es sei der letzte Abend, an dem sie ihn erblickte, für den sie ihre Verwandten und ihre Heimath verlassen, ihre schöne Stimme dahingegeben und täglich unendliche Qualen ertragen hatte, ohne daß er es mit einem Gedanken ahnte. Es war die letzte Nacht, daß sie dieselbe Luft mit ihm einathmete, das tiefe Meer und den sternenhellen Himmel erblickte; eine ewige Nacht ohne Gedanken und Traum harrte ihrer, die keine Seele hatte, keine Seele gewinnen konnte. Und Alles war Freude und Heiterkeit auf dem Schiffe bis weit über Mitternacht hinaus; sie lachte und tanzte mit Todesgedanken im Herzen. Der Prinz küßte seine schöne Braut, und sie spielte mit seinen schwarzen Haaren, und Arm in Arm gingen sie zur Ruhe in das prächtige Zelt.

Es wurde stille auf dem Schiffe, nur der Steuermann stand am Steuerruder, die kleine Seejungfrau legte ihre weißen Arme auf den Schiffsbord und blickte gegen Osten nach der Morgenröthe; der erste Sonnenstrahl, wußte sie, würde sie tödten. Da sah sie ihre Schwestern der Fluth entsteigen; die waren bleich wie sie; ihre langen schönen Haare wehten nicht mehr im Winde; sie waren abgeschnitten.

"Wir haben sie der Hexe gegeben, um Dir Hülfe bringen zu können, damit Du diese Nacht nicht stirbst! Sie hat uns ein Messer gegeben, hier ist es! Siehst Du, wie scharf? Bevor die Sonne aufgeht, mußt Du es in das Herz des Prinzen stechen, und wenn dann das warme Blut auf Deine Füße spritzt: so wachsen diese in einen Fischschwanz zusammen und Du wirst wieder eine Seejungfrau, kannst zu uns herabsteigen und lebst Deine dreihundert Jahre, bevor Du zum todten, salzigen Seeschaum wirst. Beeile Dich! Er oder Du mußt sterben, bevor die Sonne aufgeht! Unsere alte Großmutter trauert so, daß ihr weißes Haar gefallen ist wie das unsrige, unter der Scheere der Hexe. Tödte den Prinzen und komm zurück! Beeile Dich! Siehst Du den rothen Streifen am Himmel? In wenig Minuten steigt die Sonne auf, und dann mußt Du sterben!" Und sie stießen einen wunderbaren tiefen Seufzer aus und versanken in die Wogen.

Die kleine Seejungfrau zog den Purpurteppich vom Zelte fort, und sah die schöne Braut mit ihrem Haupte an des Prinzen Brust ruhen; und sie bog sich nieder, küßte ihn auf seine schöne Stirn, blickte gen Himmel auf, wo die Morgenröthe mehr und mehr leuchtete; betrachtete das scharfe Messer und heftete die Augen wieder auf den Prinzen, der im Traume seine Braut bei Namen nannte. Nur sie war in seinen Gedanken, und das Messer zitterte in der Seejungfrau Hand. - Aber da warf sie es weit hinaus in die Wogen; die glänzten roth, wo es hinfiel; es sah aus, als keimten Blutstropfen aus dem Wasser auf. Noch einmal sah sie mit halbgebrochenen Blicken auf den Prinzen, stürzte sich vom Schiffe in das Meer hinab und fühlte, wie ihr Körper sich in Schaum auflöste.

Nun stieg die Sonne aus dem Meere auf; die Strahlen fielen so mild und warm auf den kalten Meeresschaum, und die kleine Seejungfrau fühlte nichts vom Tode. Sie sah die helle Sonne, und oben über ihr schwebten Hunderte von durchsichtigen, herrlichen Geschöpfen; sie konnte durch dieselben des Schiffes weiße Segel und des Himmels rothe Wolken erblicken; die Sprache derselben war Melodie, aber so geistig, daß kein menschliches Ohr es vernehmen, ebenso wie kein irdisches Auge sie erblicken konnte; ohne Schwingen schwebten sie vermittelst ihrer eigenen Leichtigkeit durch die Luft. Die kleine Seejungfrau sah, daß sie einen Körper hatte, wie diese, der sich mehr und mehr aus dem Schaume erhob.

"Wo komme ich hin?" fragte sie, und ihre Stimme klang, wie die der andern Wesen, so geistig, daß keine irdische Musik sie wiederzugeben vermag.

"Zu den Töchtern der Luft!" erwiderten die Andern. "Die Seejungfrau hat keine unsterbliche Seele und kann sie nie erhalten, wenn sie nicht eines Menschen Liebe gewinnt; von einer fremden Macht hängt ihr ewiges Dasein ab. Die Töchter der Luft haben auch keine unsterbliche Seele, aber sie können durch gute Handlungen sich selbst eine schaffen. Wir fliegen nach den warmen Ländern, wo die schwüle Pestluft den Menschen tödtet; dort fächeln wir Kühlung. Wir breiten den Duft der Blumen durch die Luft aus und senden Erquickung und Heilung. Wenn wir dreihundert Jahre lang gestrebt haben, alles Gute, was wir vermögen, zu vollbringen: so erhalten wir eine unsterbliche Seele und nehmen Theil am ewigen Glücke der Menschen. Du arme kleine Seejungfrau hast mit ganzem Herzen nach demselben wie wir gestrebt; Du hast gelitten und geduldet, hast Dich zur Luftgeisterwelt erhoben und kannst nun Dir selbst durch gute Werke nach drei Jahrhunderten eine unsterbliche Seele schaffen."

Und die kleine Seejungfrau erhob ihre verklärten Augen gegen Gottes Sonne und zum ersten Mal fühlte sie Thränen in ihren Augen. - Auf dem Schiffe war wieder Lärm und Leben; sie sah den Prinzen mit seiner schönen Braut nach ihr suchen; wehmüthig starrten sie den perlenden Schaum an, als ob sie wüßten, daß sie sich in die Fluthen gestürzt habe. Unsichtbar küßte sie die Stirn der Braut, fächelte den Prinzen an und stieg mit den übrigen Kindern der Luft auf die rosenrothe Wolke hinauf, welche den Aether durchschiffte.

"Nach dreihundert Jahren schweben wir so in das Reich Gottes hinein!"

"Auch können wir noch früher dahin gelangen!" flüsterte eine Tochter der Luft. "Unsichtbar schweben wir in die Häuser der Menschen hinein, wo Kinder sind, und für jeden Tag, an dem wir ein gutes Kind finden, welches seinen Eltern Freude bereitet und deren Liebe verdient, verkürzt Gott unsere Prüfungszeit. Das Kind weiß nicht, wann wir durch die Stube fliegen, und müssen wir aus Freude über dasselbe lächeln, so wird ein Jahr von den dreihundert abgerechnet; sehen wir aber ein unartiges und böses Kind, so müssen wir Tränen der Trauer vergießen, und jede Träne legt unserer Prüfungszeit einen Tag zu!"






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